Möbel mit 98 Schubladen

Samenschrank 680x124

Samenschrank

Datierung:

1930

Material/Technik:

Fichte, Blech, lackiert

Inventarnummer:

90/025/002 a-b

Das mit einer Höhe von 240 cm und einer Breite von 225 cm imposante Exponat, hat schon bei manchen Museumsbesuchern Rätselraten ausgelöst.
Ein Schrank mit so vielen Schubladen, wozu diente er? Stand er in einer Apotheke oder einem Eisenwarengeschäft, Handlungen, wo jeweils eine breite Vielfalt an kleinen Portionen, Mengen oder Stückzahlen das Sortiment strukturiert? Nein, der Schrank stammt aus einer Samenhandlung in Ostfildern-Kemnat – als Samenschrank kam er im Jahr 1990 in die Sammlung des damals noch im Aufbau befindlichen Freilichtmuseums.

Verteilt auf insgesamt 98 Schubladen lagerten in dem Kasten Sämereien – Ware, die auf Kundschaft wartete. Technisch und optisch gliedert sich der Schrank in drei Teile. Das Unterteil umfasst zwei Reihen mit acht großen Schubladen, darüber, nach einem Absatz und weniger tief, drei Reihen mit 18 mittleren Schubladen. Die obere Hälfte des Schranks, ein weiterer Aufsatz, bilden 72 kleinere Schubladen in sechs Reihen. Alle Schubladen sind mit Etiketten in Metallrähmchen versehen. Handschriftlich aufgebrachte lateinische Bezeichnungen sind da und dort noch zu lesen. Nach oben schließen vier offene Fächer die Schrankwand ab; sie konnten als Ablage genutzt werden, etwa für Waagen und Löffel, mit denen die Samenmengen abgemessen und abgefüllt wurden, oder für Verpackungsmaterialien wie Stoffsäckchen und Papiertütchen, in denen die Sämereien verkauft wurden. Die oberen Schubladen und Fächer sind ohne Hilfsmittel schwerlich zu erreichen, hierfür stand wahrscheinlich eine zum Schrank gehörende Leiter parat.

Handwerklich ist das Objekt sehr sorgfältig gearbeitet, eine gut gelungene Schreinerarbeit. Die Schubladen sind gegratet und mit gedrechselten Holzgriffen oder lackierten Eisenblechgriffen versehen. Durchgängige Schrankböden verhindern, dass Samen nach unten fallen und die Sorten verunreinigen könnten. Farbspuren da und dort deuten darauf hin, dass eine vermutlich ursprüngliche Grünlackierung später entfernt wurde.

Der Schrank fungierte in der Samenhandlung als Verkaufslager. Er verkörperte, präsentierte und repräsentierte das Sortiment – in schnörkelloser Form. Das Schubladensystem ermöglichte eine übersichtliche Ordnung und eine schnelle Handhabung. Die Holzschubladen boten gute, vor allem lichtgeschützte Lagerbedingungen, die der Keimfähigkeit des Saatguts zuträglich waren. Jede Sorte dürfte teils in abgepackter Form, teils offen gelagert worden sein. Die großen Schubladen waren auf eine häufige oder mengenmäßig größere Nachfrage hin ausgelegt, vielleicht aber auch als Lager für Blumen- und Steckzwiebeln oder andere großvolumige Ware.

Zu Zeiten, als das Prinzip der Selbstversorgung noch den Rahmen des bäuerlichen Wirtschaftens absteckte, hatten die Leute kaum das nötige Geld, ihren Bedarf bei einer Samenhandlung einzudecken. Vermutlich kam ihnen dies auch gar nicht in den Sinn. Sie zogen ihre Samen für die nächste Aussaat selber oder tauschten sie über das dörfliche Netzwerk ein. Da wussten sie, was sie hatten – Herkunft und Qualität waren überschaubar, bewährt, leicht zu kontrollieren, nachvollziehbar. Der auf Samen spezialisierte Händler lockte mit einem breit gefächerten Angebot, mit neuen Züchtungen, mit ertragreicheren oder bisher unbekannten Sorten. Ob die was taugten, sollte sich erst nach Kauf und Aussaat herausstellen, vielleicht erst bei der Ernte zeigen, also wenn es u. U. zu spät war. Vertrauen, über Jahre zu der Kundschaft aufgebaut, gehörte daher unabdingbar zum Kapital jeder Samenhandlung.

Auf dieser Basis erweiterte der Samenhandel das heimische Sortiment. So kamen Pflanzen – Gemüse, Gewürze, Blumen – aus dem Mittelmeerraum, aus Südamerika und Afrika hinzu. Die Sortenschilder des Samenschrankes weisen neben „Spinat“ und „Zwiebel“ auch „Limonen“, verschiedene Sorten von „Ageratum“ (Schafgarbe) und andere Exoten aus, die heute nicht mehr als solche wahrgenommen werden. Hierzu gehört die schmalblättrige Studentenblume „Tagetes tenuifolia“, aber auch die „Tomate“, beide stammen aus Mittel- und Südamerika.

Die Ausweitung des Handels mit Samen, insbesondere der Versandhandel und der Absatz über Handelsketten brachten den Einzelfachhandel zum Erliegen.